
Ihre 11 Thesen zu linksradikaler Politik sorgten vergangenes Jahr für Aufsehen. Wie die Debatte weiterging und wie ihr revolutionärer Ansatz konkret aussieht, erklären kollektiv! aus Bremen im Gespräch.
kollektiv! Bremen Ende 2014 hat sich in Bremen aufgrund der Angriffe des IS auf die kurdischen Gebiete in Nordsyrien, wie in vielen anderen Städten auch, ein Solidaritätskomitee gegründet. Das Besondere an diesem Solikomitee war die Zusammensetzung. An den Treffen haben sich Genoss_innen der türkischen, kurdischen, iranischen und deutschen Linken beteiligt – Menschen, die seit vielen Jahren in derselben Stadt linke Politik machen, sich aber nicht wirklich kennen. Einige Genoss_innen aus dem Solikomitee hat zunehmend die Frage beschäftigt, wie ein »aktiver« Internationalismus über die »passive« Organisierung von Soliaktionen hinaus aussehen kann und was wir von den dortigen Ereignissen für die Entwicklung einer revolutionären Praxis hier lernen können.
Damals haben wir angefangen, uns in einem kleineren Kreis zu treffen und viele Stunden diskutiert. Wir sprachen über unsere politischen Erfahrungen, analysierten die aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen, kritisierten unsere bisherige Praxis und Perspektiven. Nach einem Jahr kontinuierlicher Auseinandersetzung haben wir beschlossen, einen Schritt weiter zu gehen und als gemeinsamer Zusammenhang auch eine politische Praxis zu entwickeln.
Gleichzeitig war uns klar, dass die Fragen, die uns bewegen, keine Fragen sind, die eine Gruppe alleine beantworten kann und dass es für eine grundlegende Neuausrichtung der Praxis eine breitere Diskussion innerhalb der linken Bewegung braucht. Wir haben deshalb entschieden, unsere Diskussionen in einem Text zusammenzufassen. Die Thesen waren für uns ein Mittel, um nach außen zu treten und mit anderen Gruppen in Kontakt zu kommen.
KL Ihr sprecht von der Notwendigkeit einer »Neuausrichtung linksradikaler Politik«. Was ist Eure Kritik an linksradikaler Politik und was euer Anspruch an revolutionäre Praxis?
kollektiv! Wir sehen linksradikale Politik in einer Krise oder, so könnte man es auch sagen, in einer Sackgasse. Das hat neben vielen gesellschaftlichen Faktoren auch etwas mit der strategischen Schwerpunktsetzung zu tun. Unsere Kritik bedeutet nicht, dass wir alles an der radikalen Linken oder die Bedeutung der gemachten Erfahrungen und des Wissens komplett ablehnen. Aber wir denken, dass die bestehenden gesellschaftlichen Potenziale mit der jetzigen Politik der radikalen Linken nicht ausreichend genutzt werden.
Eine Kritik ist, dass sich radikale Linke meist außerhalb der Gesellschaft verorten, diese ablehnen oder sich explizit von ihr abgrenzen. Das führt zu einem Rückzug in Szenepolitik und Subkultur. Die Folgen sind Abwehrkämpfe auf der einen und der Verlust einer gesellschaftlichen Verankerung auf der anderen Seite. Szenepolitik und Subkultur sind hilfreich, um (»Frei-«)Räume zu schaffen, in denen die eigene Identität ausgelebt, verteidigt und politische Bildung organisiert werden kann. Aber sie sind kein ausreichendes Mittel zur Gesellschaftsveränderung. Denn eine emanzipative Gesellschaftsveränderung kann nur denkbar sein als ein Prozess, der von einer breiten gesellschaftlichen Bewegung getragen wird. Deshalb kann revolutionäre Politik nur innerhalb der Gesellschaft stattfinden und muss offensiv sein.
Eine wichtige Frage ist, ob »die« radikale Linke überhaupt von der tatsächlichen Möglichkeit einer grundlegenden Überwindung dieser Verhältnisse ausgeht. Wir denken, diese Perspektive und Hoffnung ist weitgehend verloren gegangen, was die politischen Ansätze der vergangenen Jahrzehnte deutlich machen. Im Vordergrund stehen reformistische Politikansätze, die auf abstrakter Ebene ansetzen und sich im Rahmen der bürgerlichen Demokratie bewegen. So gibt es Versuche, in den bürgerlichen Diskurs zu intervenieren und eine kritische Zivilgesellschaft zu schaffen. Es gibt Mobilisierungen zu einzelnen Events oder identitätspolitische Ansätze, die versuchen, unterdrückte Positionen innerhalb des Systems sichtbarer zu machen und zu stärken. Diese politischen Praxen haben sicher dazu beigetragen, dass sich Diskurse (und auch die konkrete Situation) in bestimmten Bereichen der Gesellschaft verändert und auch verbessert haben. Sie werden aber außerhalb des bürgerlichen Spektrums kaum im alltäglichen Leben derjenigen sicht- und spürbar, die von diesen Verhältnissen am meisten unterdrückt werden. Und sie setzen auf eine Veränderung der Diskurse und Machtverhältnisse von oben und nicht auf eine revolutionäre Veränderung von unten. Es gibt unserer Ansicht nach aber keine Abkürzung der Revolution.
Eine grundlegende gesellschaftliche Veränderung kann nur durch konkrete Veränderungen von Strukturen und Erfahrungen im Alltagsleben stattfinden. Die Entscheidung für eher bürgerliche Politikansätze hat sicher auch mit der Ablehnung beziehungsweise Angst vor der Gesellschaft zu tun. Diese führt dazu, dass die radikale Linke etwa im Kampf gegen Faschismus eher mit dem Staat und der Sozialdemokratie liebäugelt und Bündnisse eingeht, als eine radikale Politik von unten zu führen. Die Folgen dieser Abwesenheit zeigt sich in ärmeren Stadtteilen, wo in den vergangenen Jahren ausschließlich der Staat (Quartiersmanagement, Sozialarbeit, Demokratieprogramme) sowie Faschist_innen (deutsche, türkische und andere) und religiöse Fundamentalist_innen Basisarbeit gemacht haben und darin sehr erfolgreich waren.
Ein weiterer Kritikpunkt bezieht sich auf die Spaltungen und weit verbreitete Organisierungsfeindlichkeit innerhalb der radikalen Linken. Wenn über die Notwendigkeit einer revolutionären Organisierung gesprochen wird, dann löst das meist Abwehrreflexe sowie den Vorwurf des Autoritarismus aus. Das hat unserer Meinung nach unter anderem mit einem fehlenden Wissen über antiautoritäre Organisierungsansätze zu tun und mit einer Verbreitung von theoretischen Ansätzen, die die Spontaneität der Massen, Identitäts- oder Mikropolitik betonen. Für uns ist Organisiertheit eine Grundlage revolutionärer Politik. Das herrschende System ist in seiner Unterdrückungs- und Herrschaftsweise hoch organisiert und verstärkt darüber hinaus die Individualisierung und Entpolitisierung innerhalb der Gesellschaft. Gleichzeitig gibt es andere gesellschaftliche Kräfte wie Faschist_innen oder religiöse Fundamentalist_innen, die ihrerseits organisiert vorgehen. Es ist daher widersprüchlich, gegen das System kämpfen zu wollen, Organisierung aber abzulehnen. Die Frage, die wir als revolutionäre Bewegung vielmehr in einem kollektiven Prozess klären müssen, ist, welche Form der Organisierung in der heutigen Zeit notwendig ist und wie das Verhältnis zwischen Organisierten und (noch) Nicht-Organisierten emanzipatorisch und transparent gestaltet werden kann.
KL Welche Faktoren haben eurer Meinung nach dazu beigetragen, revolutionäre Praxis in der Vergangenheit in den Hintergrund zu drängen?
kollektiv! Historisch gesehen gibt es verschiedene, ineinander verwobene Faktoren, die zu einer Krise revolutionärer Politik beigetragen haben. Etwas verkürzt können wir hier folgende nennen, die unserer Meinung nach eine wichtige Rolle gespielt haben: Die Niederlage der linken Bewegungen weltweit ab Ende der 1970er Jahre hat zu einer großen Enttäuschung und Hoffnungslosigkeit unter Linken geführt. Dazu gehören sowohl der Niedergang der damaligen sozialistischen Versuche als auch die systematische Zerschlagung linker Bewegungen und Organisationen in vielen Ländern der Welt. Bei vielen, die aktiv geblieben sind, hat dies zu einem Bruch mit organisierten Kämpfen und kommunistischen Ansätzen beigetragen – natürlich auch als Reaktion auf die (teilweise großen) Fehler, Defizite und falschen Ansätze der damaligen sozialistischen Projekte. Eine Folge war, dass innerhalb linker Tendenzen in Westeuropa, diejenigen mehr an Gewicht bekommen haben, die sich inhaltlich sowie historisch von kommunistischen Ansätzen abgegrenzt haben. In der BRD zeigt sich dies in der Entstehung und Ausbreitung der Sponti-Bewegung, die aus der 68er-Bewegung entstand, mit dieser aber auch explizit gebrochen hat.
Parallel dazu haben sich auch neue theoretische Denkweisen entwickelt, wie postmoderne und poststrukturalistische Ansätze, die sich in der linksradikalen Bewegung schnell ausgebreitet haben und als diskursiver Ersatz für kommunistische Ansätze aufgenommen und verinnerlicht wurden.
Hinzu kommt, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion und der Siegeszug des Kapitalismus gesellschaftlich zu einer umfassenden Verinnerlichung kapitalistischer und neoliberaler Denkweisen geführt hat. Das hat sowohl den Raum für revolutionäre Politik innerhalb der Gesellschaft verringert als auch nationalistische Ansätze gestärkt. In dieser Situation sind Abwehrkämpfe in den Mittelpunkt linksradikaler Politik gerückt (zum Beispiel die Antifa-Bewegung) und der Kampf gegen die Gesellschaft hat den Kampf gegen das System ersetzt, was sich theoretisch am deutlichsten in den Ansätzen der Antideutschen widergespiegelt hat. Als Reaktion auf die Fehler von revolutionären Bewegungen und Projekten in der Vergangenheit und die gesellschaftlichen Entwicklungen hat die radikale Linke in der BRD die Verbindung zu ihren revolutionären Wurzeln und Traditionen gekappt.
KL Der Begriff der Selbstorganisation ist in den Thesen zentral. Was versteht ihr unter Selbst- bzw. Basisorganisation? Ihr verwendet zum Beispiel den Begriff der »widerständigen Infrastruktur«, wie kann diese aussehen?
kollektiv! Wir haben in den vergangenen anderthalb Jahren, seit wir die Thesen veröffentlicht haben, die Erfahrung gemacht, dass der Begriff der Selbstorganisierung sehr weit ist und sehr unterschiedlich verstanden werden kann. Differenzen gibt es dabei nicht so sehr in den langfristigen Zielen, also der Überzeugung, dass eine emanzipatorische Gesellschaft maximal dezentral und selbstorganisiert sein muss und nicht von oben regiert werden kann.
Die Unterschiede haben eher mit der Frage zu tun, wer das Subjekt der Selbstorganisierung ist und welche Rolle revolutionäre Kräfte im Prozess der Gesellschaftsveränderung spielen: Geht es uns bei Selbstorganisierung im Wesentlichen darum, selbstorganisierte linksradikale Infrastruktur zu schaffen und zu verteidigen (besetzte Häuser, autonome Zentren, linke Kollektive)? Oder geht es uns darum, Strukturen der Selbstorganisation zu schaffen, in denen wir uns als Betroffene in Bezug auf unsere jeweils eigenen Alltagsprobleme organisieren (als Arbeitslose, als Arbeiter_innen, in Mietkämpfen)? Oder geht es um den Aufbau selbstorganisierter Infrastruktur im eigenen Alltag (solidarische Landwirtschaft, alternative Kliniken, Kommunen)? Oder geht es uns um die Schaffung von Strukturen und politischen Praxen, die neben einer Organisierung von uns selbst darauf ausgerichtet sind, für breite Teile der unterdrückten Gesellschaft relevant zu werden?
Natürlich müssen die Strategien nicht komplett gegeneinander stehen, sondern können sich auch ergänzen. Es ist also eine Frage der Schwerpunktsetzung in den strategischen Überlegungen und Praxen. Unsere eigene Praxis orientiert sich am letzten Verständnis von Selbstorganisierung. Das heißt, wenn wir vom Aufbau »widerständiger Strukturen« sprechen, dann meinen wir damit Strukturen, die sich an den Bedürfnissen der Mehrheit der Gesellschaft orientieren, das Entstehen und Führen von Kämpfen ermöglichen und einen gemeinsamen Prozess der Politisierung. Letzterer ist für uns zentral, um über eine kleinteilige und lokale Praxis hinaus eine gesamtgesellschaftliche Perspektive und ein Verständnis über die gemeinsamen Ursachen verschiedener Kämpfe zu entwickeln.
KL Wer ist also das Subjekt der Selbstorganisierung? Seid ihr der Meinung, dass Kämpfe nur aus Betroffenheiten in jeweiligen Interessenskonflikten heraus stattfinden können (»die eigene Situation«) oder kann es auch eine solidarische gemeinsame Praxis von »Betroffenen« und »Nicht-Betroffenen« geben?
kollektiv! Das Subjekt der Selbstorganisierung sind für uns nicht nur radikale Linke, sondern ein Großteil derjenigen, die von den herrschenden Verhältnissen unterdrückt werden. Wir als radikale Linke sind Teil der Gesellschaft und werden von diesem System unterdrückt, sind also betroffen. Betroffenheit ist jedoch etwas Vielfältiges, nicht alle werden gleichzeitig von allen Mechanismen direkt unterdrückt. Und auch kritische Denkweisen über die gesellschaftlichen Ursachen dieser Mechanismen sind nicht gleich verteilt. Wir könnten es so formulieren: Revolutionär_innen hatten in ihrem Leben »das Privileg« oder irgendwann die Chance, ein politisches Bewusstsein und kritische Denkweisen zu entwickeln und dadurch auch die Motivation diese Verhältnisse zu verändern. Diese Möglichkeit, die eigene Subjektivität zu entwickeln, ist in der aktuellen Gesellschaft sehr ungleich verteilt. Insofern geht es uns bei der Entwicklung unserer Praxis um die Frage, wie man diese Lücke überbrücken kann.
Eine der Kritiken, die wir häufig hören, ist, dass Basisarbeit und jeder Versuch, Menschen zu »politisieren« oder zu »organisieren« per se autoritär, manipulierend oder instrumentalisierend sei. In dieser Logik bleibt nur noch die Möglichkeit, sich als Betroffene selbst zu organisieren und zu hoffen, dass sich andere auch irgendwann organisieren oder spontan emanzipative Erhebungen auftauchen. Wir teilen diese Auffassung nicht. Wir sind (auch wenn unterschiedlich) betroffen und haben als Revolutionär_innen ein konkretes Interesse daran, diese Verhältnisse zu überwinden. Das können wir nicht alleine. Deshalb geht es uns darum, Praxen zu entwickeln, die mehr Menschen die Möglichkeit geben, sich kritische Denkweisen und kollektive widerständige Praxen anzueignen, sich aus ihrer Ohnmacht zu befreien und ihre Subjektivität zu entwickeln. Ein Beispiel dafür kommt von uns selbst: Genoss_innen von uns aus der Türkei haben sich politisiert, weil damals Revolutionär_innen in ihren Stadtteil gekommen sind und Jugendarbeit gemacht haben.
In einer Situation, in der das herrschende System hegemonial ist und aktiv versucht, jeden Funken Widerständigkeit in jedem Bereich des Lebens systematisch zu brechen oder in andere Bahnen zu lenken und auf der anderen Seite reaktionäre Kräfte stehen, die ihrerseits die Unzufriedenheit und Ausbeutung von Leuten ideologisch für sich nutzen, reichen Ansätze der ersten Person nicht aus. Es braucht daher eine revolutionäre Organisierung, die in der Lage ist, an vielen unterschiedlichen Orten eine Politik von unten zu entfalten, die am Alltag anknüpft und auch politische Bildung beinhaltet. Revolutionär_innen agieren darin als Betroffene und Initiativkräfte zugleich. Wenn es um die Frage von Instrumentalisierung und Manipulation geht, dann ist unserer Meinung nach eher wichtig, wie das Verhältnis zwischen denjenigen gestaltet werden kann, die schon jetzt die Motivation haben, gegen die Verhältnisse zu kämpfen und denjenigen, die diese Motivation noch nicht haben, alleine kämpfen oder die Gründe für ihre Misere in nationalistischen bis rassistischen Erklärungsversuchen suchen. Wir denken, es ist möglich, eine Praxis zu entwickeln, die auf Augenhöhe stattfindet und darum weiß, dass es ein gegenseitiger Lernprozess ist.
Es gibt aktuell aber auch historisch viele Erfahrungen, die zeigen, dass ein konstruktiver gemeinsamer Kampf möglich ist, wie zum Beispiel in Brasilien, Argentinien, Chiapas, Kurdistan aber auch Organisierungs-Modelle gegenseitiger Solidarität auf lokaler Ebene zwischen Menschen, die von unterschiedlichen Aspekten des Systems unterdrückt werden, wie zum Beispiel die Solidarity Networks oder Stadtteilgewerkschaften.
das gesamte Interview ist zuerst erschienen auf: kritisch-lesen.de
der zweite Teil wird in Kürze von uns wiederveröffentlicht