
Quer: Erzählen Sie uns bitte von den Aktionskonferenzen zu Care Revolution, über den aktuellen Stand des Netzwerks, das sich daraus entwickelt hat, und inwieweit sich dieses mit den Kämpfen im Care-Bereich verbunden hat.
Gabriele Winker: Eine sehr kleine Gruppe von Menschen hat 2013 begonnen, als Reaktion auf die Krise sozialer Reproduktion eine Aktionskonferenz Care Revolution vorzubereiten. Der Gedanke war von vornherein, die vielen kleinen Initiativen in unterschiedlichen Care-Bereichen zusammenzubringen und damit insgesamt sichtbarer zu werden. Darüber hinaus waren wir uns einig, dass es notwendig ist, dass Care-Empfangende und Care-Gebende gemeinsam aktiv werden. Ansonsten können sie weiterhin relativ einfach gegeneinander ausgespielt werden.
Es kamen – für uns überraschend – 500 Interessierte und die drei Tage, in denen wir zusammen in Workshops arbeiteten, hatten eine große Dynamik. So haben wir als Konsequenz im Mai 2014 das Netzwerk Care Revolution gegründet. Akteur_innen des Netzwerks Care Revolution sind inzwischen über 70 Gruppen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen und auch mit verschiedenartiger politischer Zielsetzung, die für mehr Zeit und Ressourcen zugunsten der nicht entlohnten und entlohnten Sorgearbeit eintreten.
Das Spektrum reicht von Initiativen pflegender Angehöriger über Interessenvertretungen von Menschen mit Behinderungen und Elterninitiativen bis zu Organisationen von Migrant_innen, von Verdi- und GEW-Betriebsgruppen im Bereich der Pflege und Erziehung über Organisationen aus den sozialen Bewegungen bis zu feministischen und linksradikalen Gruppen. Die meisten Initiativen sind in Deutschland aktiv, aber auch in Österreich und der Schweiz unterstützen einzelne Initiativen das Netzwerk Care Revolution. Ein bedeutsamer Teil dieser Initiativen kommt aus feministischen oder queer-feministischen Zusammenhängen.
Manche haben bereits im Rahmen der Zweiten Frauenbewegung für eine Aufwertung der nicht entlohnten Reproduktionsarbeit gekämpft. Heute thematisieren Care-Aktive die geschlechterungleiche Verteilung der Sorgearbeit und fordern deren Anerkennung als gesellschaftlich notwendige Arbeit ein. Andere sind in Gruppen tätig, in denen sie antikapitalistische mit feministischen Positionen verbinden und ihre eigene Lebenssituation im Zusammenhang mit strukturellen Krisenanalysen thematisieren. Sie haben Care Revolution etwa in die Blockupy-Proteste eingebracht. Women in Exile, die ebenfalls an der ersten Aktionskonferenz Care Revolution teilgenommen haben, fordern die Unterbringung von Geflüchteten in Wohnungen statt in Lagern ohne Privatsphäre und Schutz vor Übergriffen.
Diese Forderung erheben sie vordringlich für Frauen und Kinder, verbinden sie jedoch mit der nach Auflösung aller Lagen In den letzten Jahren machten im Bereich der Care-Lohnarbeit Arbeitskämpfe Schlagzeilen, die in verschiedener Hinsicht neuartigen Charakter hatten. Beispielsweise forderten die Ver.di-Betriebsgruppe und der Personalrat der Charité Berlin vom Unternehmen, das die Berliner Uni-Krankenhäuser betreibt, einen Tarifvertrag zur Mindestpersonalbesetzung auf den Pflegestationen. Diesen Arbeitskampf unterstützte das »Bündnis Berlinerinnen und Berliner für mehr Personal im Krankenhaus“ aus der Interessenlage als potenzielle Patient_innen heraus mit Solidaritätsaktionen. Ein solcher politischer Zusammenschluss Aktiver über Positionen im Sorgeverhältnis hinweg wurde 2015 auch beim Kita-Streik sichtbar. Selbst wenn Erzieher_innen und Eltern in der Streiksituation selbst unterschiedliche Interessen hatten, bezogen sie sich aus unterschiedlichen Positionen positiv und wertschätzend aufeinander.
Auch selbstverwaltete Betriebe unterstützen die Gedanken der Care Revolution, beispielsweise die Pflegekräfte der Tagespflege Lossetal, die ein Arbeitsbereich der Kommune Niederkaufungen ist. In der Tagespflege für pflegebedürftige, insbesondere demente Menschen werden andere Mitglieder der Kommune, Nachbar_innen und Angehörige möglichst weitgehend beteiligt.
In der familiären Pflegearbeit lässt sich die Initiative »Armut durch Pflege” anführen, die der Verein »wir pflegen – Interessenvertretung begleitender Angehöriger und Freunde in Deutschland” startete. Ziel des Vereins ist es, Betroffenen, ihren Notlagen und ihren Forderungen eine Stimme zu geben und materielle Verbesserungen für pflegende Angehörige, etwa durch ein substanzielles Pflegegeld, durchzusetzen. Dabei wird in den Forderungen immer auch die Menschenwürde der Gepflegten mit gesprochen, die nicht von ihrer Leistungsfähigkeit abhängen darf. Die Kooperation dieser verschiedenen Gruppen ist allerdings nicht immer einfach: Zwar gibt es reale, vielfältige Kämpfe und Alternativprojekte rund um Sorgearbeit und den Wunsch, sich gegenseitig zu unterstützen. Dennoch stehen die je eigenen, häufig existenziellen Kämpfe notwendigerweise im Zentrum des Handelns der Initiativen. Und noch fehlen die konkreten Erfahrungen, dass ein gemeinsames Auftreten tatsächlich zu mehr Erfolg führt.
Quer: Auch für die unabhängige Sozialberatung der ALSO spielen Geflüchtete eine immer größere Rolle. Denken Sie, dass die notwendige Arbeit mit Geflüchteten die Vernetzungsarbeit mit anderen gesellschaftlichen Bereichen der Care-Arbeit eher verdrängt (oder gar behindert) oder fördert?
G. W.: In einer Welt von Krieg, Terror, Verfolgung und Diskriminierung sind es für mich Lichtblicke der Menschlichkeit, wenn Hunderttausende die ankommenden Geflüchteten mit dem nötigsten Essen und Trinken sowie Kleidung und Decken versorgen und sie freundlich und positiv begrüßen. Beeindruckt bin ich insbesondere dann, wenn politische Initiativen, die für die Verbesserung ihrer eigenen Lebensbedingungen kämpfen, Geflüchtete beraten und ihnen damit weiterhelfen, wie ich es bei der unabhängigen Sozialberatung der ALSO vermute. Hier sorgen Menschen für andere, geben ein Stückchen ihrer häufig knappen zeitlichen oder finanziellen Ressourcen für die Unterstützung von Menschen in Not. Dies sind für mich ermutigende Zeichen der Solidarität.
Dass damit die politische Vernetzungsarbeit in anderen gesellschaftlichen Care-Bereichen geschwächt werden könnte, sehe ich nicht. Denn auch Geflüchtete benötigen umfassende Existenzsicherung, gesundheitliche Versorgung, angemessene Bildungsangebote, finanzierbaren Wohnraum, gute Arbeitsbedingungen. Deswegen muss es jetzt gelingen, die vielfältigen Aktivitäten des Füreinander sorgens zu verbinden mit politischen Auseinandersetzungen um die notwendigen finanziellen Mittel für zusätzliche Erzieher_innen, Lehrer_innen, Sozialarbeiter_ innen, Therapeut_innen und viele weitere Care-Beschäftigte. Gerade weil bei der Unterstützung von geflüchteten Menschen in konkreten Projekten sehr viele Menschen aktiv sind, besteht vielleicht sogar gerade hier die Chance, sich auch lautstark für einen umfassenden Ausbau der sozialen Infrastruktur gemeinsam einzusetzen.
Gerade im Care-Bereich werden derzeit eine Reihe von politischen Auseinandersetzungen geführt, die nicht nur für die bereits länger im Land wohnenden, entlohnt und nicht entlohnt arbeitenden Sorgearbeitenden wichtig sind, sondern auch für Geflüchtete. Die verbesserte Ausstattung der Kitas und eine pädagogisch angemessene Mindestbesetzung der Gruppen sowie die Aufwertung der so wichtigen Tätigkeiten mit kleinen Kindern sind ein Beispiel. Erzieher_innen sorgen heute mehr denn je dafür, dass Kinder aus vielen Ländern gut miteinander aufwachsen und ihre Fähigkeiten und Kompetenzen entwickeln können. Sie sind eine Anlaufstelle für deren Eltern, die sich erst noch über die Rahmenbedingungen in einem völlig neuen Land informieren müssen.
Quer: Wir beobachten auch hier in Oldenburg, wie versucht wird, notwendige Arbeiten rund um die Flüchtlingsfrage in den ehrenamtlichen Bereich zu drängen. Verhindern all die Helfer_innen mit ihrer unbezahlten Arbeit nicht Kämpfe um ausreichende Bezahlung und gesellschaftliche Anerkennung der Care-Arbeiten?
G. W.: Dass von Seiten der Bundes‑, Landes- und Kommunalregierungen versucht wird, mit den vielen ehrenamtlich Aktiven Kosten zu sparen, ist offensichtlich. Dennoch sind es nicht die Helfer_innen mit ihrer unbezahlten Arbeit, die Lohn- und Anerkennungskämpfe der Care-Beschäftigten verhindern. Das wäre ja so ähnlich, wie wenn wir sagen würden, Eltern, die zu Hause unentlohnt Kinder erziehen, sind mitverantwortlich für die schlechte Entlohnung und die fehlende Anerkennung von Erzieher_innen. Nein, ich denke, umgekehrt wird ein politischer Schuh draus. Wenn zivilgesellschaftlich Engagierte und Care-Beschäftigte zusammen mit geflüchteten Menschen politisch auftreten, kann sich daraus eine neue politische Stärke rund um das Thema Care entwickeln. Wenn wir die Idee der Care Revolution ernst nehmen, dass es darum geht, dass Sorge-Empfangende und – entlohnt sowie unentlohnt – Sorge-Gebende politisch zusammenarbeiten müssen, dann lässt sich dies im Bereich der unterstützenden und gleichzeitig politischen Zusammenarbeit mit geflüchteten Menschen ebenfalls deutlich machen. Neben den konkreten Hilfsangeboten vor Ort geht es erstens darum, politisch darum zu streiten, dass für den gesamten Care-Bereich weitere Gelder bereitgestellt werden, mit denen unter anderem neue Care-Beschäftigte sozialversicherungspflichtig unbefristet eingestellt werden können.
Darüber hinaus aber geht es zweitens darum, dass jetzt nicht wieder eine unwillige Staatsmacht, der diese Gelder erst mühsam abgerungen werden müssen, darüber entscheidet, was damit passiert, sondern die Beteiligten selbst. Da anders als in bereits bestehenden Care-Bereichen in der Unterstützung von geflüchteten Menschen sehr viele Menschen ehrenamtlich und politisch aktiv sind, könnten wir dort erste Formen einer Demokratisierung der Sorgearbeit gemeinsam ausprobieren. Ich stelle mir Runde Tische vor, an denen geflüchtete Menschen, zivilgesellschaftlich Engagierte und Care-Beschäftigte gemeinsam über die nächsten notwendigen Schritte beraten. So könnte es gelingen, staatlich finanzierte Projekte oder Projekte mit Unterstützung von Care-Beschäftigten gemeinsam mit vor Ort bereits tätigen Unterstützungsgruppen und den geflüchteten Menschen auszugestalten. Ich denke dabei an »Küchen für alle«, Räume und Wohnprojekte für geflüchtete Frauen, Gestaltung von Sprachkursen mit allen Beteiligten vor Ort.
Quer: Würden Sie sagen, dass in Care-Arbeit revolutionäres und utopisches Potential steckt? Und wie unterscheidet es sich von z. B. der sozialistischen Utopie?
G. W.: Ich sehe in der Transformationsstrategie der Care Revolution in der Tat ein großes revolutionäres und utopisches Potential. Das Ziel und damit auch die konkrete Utopie der Care Revolution ist eine an menschlichen Bedürfnissen, insbesondere an der Sorge füreinander orientierte, radikal demokratisch gestaltete solidarische Gesellschaft.
Konkret ist derzeit zunächst wichtig, sich für eine existenzielle Absicherung aller Menschen, eine radikale Verkürzung der Vollzeiterwerbsarbeit sowie einen Ausbau der sozialen Infrastruktur einzusetzen. Dabei bleibt das Konzept der Care Revolution jedoch nicht stehen. Die Strategie besteht darin, die Care-Bereiche der Verwertung von Kapital zu entziehen. Denn gerade bei Care-Arbeit wird deutlich, wie unsinnig und kontraproduktiv es ist, Menschen nach dem Prinzip maximaler Profitabilität und Effizienz erziehen, unterstützen, bilden oder beraten zu wollen. Darüber hinaus ist es wichtig, diese Bereiche demokratisch und bedürfnisgerecht zu gestalten. Denn weil Menschen sehr unterschiedliche Wünsche an eine soziale Infrastruktur haben, ist es sinnvoll, durch Mitsprache aller jeweils Betroffenen vielfältige Angebote zu entwickeln.
Dies können sowohl Commons- und Selbsthilfeprojekte sein als auch eine radikal demokratisierte öffentliche Infrastruktur. Beides ist auf kommunaler Ebene und damit dezentral in Stadtteilen oder im Dorf gemeinsam plan- und umsetzbar. Mit der Etablierung solcher dezentraler und zentraler Strukturen, in denen bedürfnisorientiert und tatsächlich demokratisch Entscheidungen getroffen werden, lassen sich Erfahrungen sammeln und Fähigkeiten erwerben, die es ermöglichen, über den Care-Bereich hinausgehend die gesamte Ökonomie zu vergesellschaften.
Dieser Weg sieht vom gegenwärtigen Standpunkt aus fast unüberschaubar weit aus. Auf ihm wird es Rückschläge und Umwege geben. Es werden sich aber auch überraschende Erfolge und neue Ideen einstellen, die von Akteur_innen kommen, die bisher noch kaum Teil der sozialen Bewegung sind und die ihre Erfahrungen und Gedanken zum Tragen bringen. Je unterschiedlicher diese Mitstreiter_innen sind, desto vielfältigere und interessantere Vorschläge und Konzepte werden entstehen, die auch durch globalen Wissens- und Gedankenaustausch bereichert werden. Die geteilte Erfahrung, dass solidarisch Handelnde tatsächlich ihre Welt gestalten können, kann die nötige Energie freisetzen, um den Weg in eine solidarische Gesellschaft zu gehen, in eine Gesellschaft, in der Menschen die für sie jeweils guten Lebenskonzepte tatsächlich realisieren können. Wem es wichtig ist, kann diese Gesellschaft auch als sozialistische Gesellschaft bezeichnen. Ich bin allerdings der Meinung, dass dieser Begriff in den letzten Jahrzehnten zu vielen Fehlinterpretationen und Missverständnissen unterworfen war.
Quer: Wie könnte die ALSO sich in das Netzwerk Care Revolution sinnvoll einbringen?
G. W.: Zunächst einmal ist jede aktive Gruppe, Initiative oder Organisation, die sich mit dem Konzept der Care Revolution auseinandersetzt und es für ihre politische Arbeit nutzt, schon ein großer Gewinn. Der nächste Schritt für die ALSO wäre aus unserer Sicht, sich bereitzuerklären, als Kooperationspartner an der inhaltlichen Weiterentwicklung unseres Netzwerks und/oder an der einen oder anderen gemeinsamen Aktion, wie beispielsweise am Tag der unsichtbaren Arbeit bei der Mai-Demo, vor Ort mitzuwirken.
Wir haben derzeit über 70 Kooperationspartner_innen aus sehr unterschiedlichen Bereichen, die wir auf unsere Homepage aufführen. Bei öffentlichen Veranstaltungen stoßen wir immer wieder auf große Aufmerksamkeit, gerade weil im Netzwerk Care Revolution so viele unterschiedliche politische Strömungen aus sehr verschiedenen Care-Bereichen mitwirken. Bisher ist die politische Arbeit von Erwerbslosen im Netzwerk noch unterbelichtet, von daher würden wir uns sehr freuen, wenn die ALSO als Kooperationspartner zum Netzwerk stoßen würde. Ein weiterer Schritt wäre der Aufbau eines Netzwerks Care Revolution Oldenburg. Wir haben derzeit acht solcher meist recht kleinen Regionalgruppen. Diese Gruppen versuchen, Aktive aus Care-Bereichen vor Ort zusammenzuführen, um dann bei bestimmten Thematiken wie Vorbereitung der 8.März-Demo, der Unterstützung des Kita-Streiks oder auch der Politisierung der Situation von Haushaltsarbeiter_innen gemeinsam in der Stadt oder in der Region aktiv zu werden. Selbstverständlich steht allen Kooperationspartner_innen auch immer offen, sich in unseren kleinen bundesweiten Koordinierungskreis einzubringen, ein bundesweites Netzwerktreffen mit vorzubereiten oder sich bei der 2. Aktionskonferenz, die wohl 2017 stattfinden wird, zu engagieren. Aufgaben gibt es genug, politisch erfahrene Mitstreiter_innen sind herzlich willkommen!
Dr. Gabriele Winker ist Professorin für Arbeitswissenschaft und Gender Studies an der TU Hamburg-Harburg. Sie ist Mitbegründerin des Feministischen Instituts Hamburg und ist im Netzwerk Care Revolution aktiv. Ihre Gedanken sind ausführlich nachzulesen in ihrem 2015 erschienenen Buch »Care Revolution. Schritte in eine solidarische Gesellschaft«. Eine knappe Einführung ist in einem 12 minütigen Video zu finden.
Zuerst erschienen in der quer No 16, 06/2016