
Anlässlich des Tages der Befreiung vom Faschismus fand am Samstag, den 7. Mai auf dem Friedhof Bockhorst/Esterwegen eine von der »deutsch-niederländische Initiative 8. Mai« organisierte Veranstaltung zum Gedenken an die Opfer der »Emslandlager« statt. 1.315 Verstorbene der Strafgefangenenlager Börgermoor, Aschendorfermoor, Brual-Rhede, Walchum, Neusustrum, Oberlangen und Esterwegen sind hier begraben, die während der Zeit des Nationalsozialismus aus politischen Gründen und als Straf- und Kriegsgefangeneinhaftiert wurden. Viele Jahre haben ehemalige Lagerinsassen an dieser Stelle über die Zeit der Gefangenschaft berichtet. Doch heute können die meisten von ihnen nicht mehr an den Gedenkveranstaltungen teilnehmen, weil sie zu alt, zu krank oder bereits verstorben sind. Ohnehin waren nur wenige der ehemaligen Häftlinge nach der Befreiung in der Lage, über das Erlebte zu berichten. Die fehlenden Zeitzeug_innen hinterlassen eine Lücke in der Erinnerung an die Verbrechen des deutschen Faschismus – und dennoch wurde an der Verantaltung deutlich, dass es ein Gedenken auch ohne sie geben muss und geben wird.
So war es Christel Pieper, Tochter eines ehemaligen Moorsoldaten, die über ihren Vater erzählte, der als politischer Häftling bis 1934 im Straflager Börgermoor und von 1939 – 1945 im KZ Sachsenhausen und KZ Flossenbürg inhaftiert war. Hat sie sich lange lediglich als »Zeugin der Zeitzeugen« betrachtet, ist es ihr heute wichtig, als Zeitzeugin auch an die erneute Verfolgung von Antifaschist_innen nach Kriegsende zu berichten. Nicht als Historikerin, sondern als Angehörige berichtet sie vom Leiden der Menschen der sogenannten zweiten Generation. Darüber, wie sich das Gefühl der Schande, des Verrats und der Verfolgung über die Generationen hinweg in den Gedanken und Empfindungen wiederholt. Heute bezeichnet sich Christel Pieper als »stolze Tochter eines Werftarbeiters, Laienschauspielers, Zuchthäuslers, KZ-Häftlings und Kommunisten, der mit seinem aufrechten Gang und seiner Ehrlichkeit mir Humanismus und Freiheitsliebe vorgelebt hat«. Mithilfe des von ihr mit begründeten Netzwerks »Kinder und Enkel von Widerstand und Verfolgung« im Norden möchte sie diese Erfahrung weitertragen.
Die ehemaligen Lagerinsassen, die viele Jahre auf der Gedenkfeier aus der Zeit der Gefangenschaft berichtet haben, haben immer wieder über die erlebte Solidarität der Gefangenen untereinander als eine besondere Erfahrung berichtet. In Erinnerung geblieben sind die Ereignisse, die von Hilfe unter- und Verantwortung füreinander geprägt waren – die Mehrarbeit der Kräftigeren für die Schwächeren, das Teilen des Essens mit denen, die mehr benötigten und vieles mehr. Diese grenzenlose, internationale Solidarität betonte Matthijs Dröge von der Neuen Kommunistischen Partei Niederlande, indem er auf die Zusammenarbeit von deutschen und niederländischen Antifaschist_innen hinwies, die einander über die Grenzen hinweg in ihrem Kampf gegen den Faschismus unterstützen. Er erinnerte daran, dass das Gedenken an die Verbrechen des Faschismus und seine Opfer hart erkämpft wurde und keine Selbstverständlichkeit, sondern einen politischen Akt darstellt. Dröge sprach sich gegen eine Verwässerung der Erinnerung aus, die nicht nur in Deutschland sondern auch in den Niederlanden stattfinde. Dort werde der 8. Mai in den letzten Jahren zunehmend dazu instrumentalisiert, aller Kriegstoten – einschließlich der Gefallenen in niederländischen Kolonialkriegen, Nazikollaborateur_innen und Wehrmachtssoldaten – zu gedenken. Dem stellt er ein Erinnern wie hier in Esterwegen entgegen, welches nicht an Landesgrenzen halt macht. Ein Erinnern, bei dem Menschen aus den Niederlanden und aus Deutschland zusammenkommen, um gemeinsam der politisch Verfolgten, der Straf- und Kriegsgefangenen der »Emslandlager« zu gedenken.
Rolf Becker, der dritte der geladenen Redner der diesjährigen Veranstaltung würdigte in seiner Rede zunächst die langjährige und länderübergreifende Arbeit der Initiative 8 Mai. Tage der Erinnerung wie diese seien wertvoll und notwendig, da sie nicht nur die Verbrechen der Vergangenheit benennen, sondern auch sensibel machen für mögliche Parallelen in der Gegenwart. Er berichtete von seinen Kindheitserfahrungen der Konfrontation mit dem Faschismus – so z.B. die Erschießung flüchtender Häftlinge aus dem nahe gelegenen Lager in Neuengamme und über das vielfache und durchgängige Schweigen über die Verbrechen im Nachkriegsdeutschland. Und damit schlägt Rolf Becker die Brücke zu den derzeitigen Verhältnissen, in denen europaweit faschistisch orientierte Gruppierungen und Parteien versuchen, Proteste gegen die Aushöhlung sozialer Standards mit rechten Parolen gegen sozial Schwächere zu wenden. Becker benennt die Notwendigkeit von Widerstand nicht nur gegen neue Nazis, sondern auch gegen die Verschiebung des gesamten politischen Spektrums nach rechts. Und er fordert Solidarität mit denen, die heute von Krieg, Rassismus und Faschismus bedroht sind.
Anders als im hegemonialen Gedenken der Bundesrepublik finden auf der Gedenkveranstaltung in Esterwegen politisch Verfolgte, Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter_innen Anerkennung – das macht diese Veranstaltung zu etwas Besonderem. Auch die politische Ausrichtung der Reden ist bemerkenswert: der deutsche Faschismus wird nicht als isoliertes Phänomen betrachtet – vielmehr wird nach dem Vorher und Nachher gefragt, über relativierende Formen des Erinnerns gesprochen und Entwicklungen skandalisiert, die auch heute Menschen existenziell bedrohen und einem emanzipatorischen Leben entgegenstehen.
Dabei wird bei dieser jährlichen Gedenkveranstaltung zum Tag der Befreiung der antifaschistische Widerstand gewürdigt. Zugleich ermutigt sie auch dazu, heute nicht weg zu sehen und aktiv zu werden.
Wir schließen uns dem Résistancekämpfer und jüdischen Kommunisten Peter Gingold an, der sagte, dass es »…nie wieder ein Deutschland geben [darf], das so viel Schrecken über die Welt bringen kann, nie wieder ein faschistisches Deutschland.»1
Die Reden der Gedenkveranstaltung sind auch auf YouTube verfügbar.
- Peter Gingold, Paris-Boulevard St. Martin No.11, Köln 2009↩