
Diese für viele Erwerbsloseninitiativen existenzielle Frage beantwortet Leiv Eirik Voigtländer in seiner Doktorarbeit vom Dezember 2013. Er macht das auf wissenschaftliche Art und Weise, aber nicht von oben herab:„Eine engagierte Sozialforschung … muss in der Lage sein,… Kämpfe dort zu verorten, wo sie von den Betroffenen geführt werden.“ (S. 275) Als 292 Seiten starkes Buch ist seine Studie jetzt Interessierten zugänglich. Voigtländer stellt darin eine beeindruckende Fülle an Informationen zur Verfügung. „Die Datengrundlage bilden qualitative, leitfadengestützte Interviews mit Bürgern, die Leistungen der sozialen Mindestsicherung beziehen; das zentrale Thema dieser Interviews ist ihr soziales und sozialpolitisches Engagement“ (S. 57). Und durch die Definierung der „Kontextbedingungen“ „die sich hinderlich oder förderlich auf das Engagement der Interviewten auswirken“ (S. 213), erfahren wir, was „Betroffenheit bewältigen“, „unter Gleichen sein“, „mehr erreichen, als bloß zu helfen“ und „politisch wirken“ (vgl. S. 213 ff.) für diese bedeutet. Das Forschungsfeld der aktiven Erwerbslosengruppen wird allerdings durch die „Zersplitterung dieses Spektrums“ eingegrenzt: „Es ist seit den 1980er Jahren ein Allgemeinplatz in der Forschung zur Erwerbslosenbewegung, dass es eine solche eigentlich gar nicht gibt, so dass stattdessen eher von einer Szene oder einem Spektrum von Initiativen gesprochen werden kann.“ (S. 27) Eine Szenestudie also. Abschätzig ist das nicht gemeint. Voigtländer arbeitet heraus, wie diese Szene politisch wachen Erwerbslosen Informationen und Einflussmöglichkeiten, Halt und Gemeinschaft, gesellschaftlich sinnvolle Aufgaben und Möglichkeiten der aktiven Betätigung bietet. Ohne Widersprüche geht das Ganze nicht ab, die Stigmatisierung und Ausgrenzung der Erwerbslosen hinterlässt auch unter den Aktiven ihre Spuren. Voigtländer zeigt auf: Das Verhältnis zwischen helfenden und hilfesuchenden Erwerbslosen ist nicht immer das zwischen Gleichen – und manchmal auch von Vorurteilen geprägt.
Sperriges Werk – in Häppchen genießen
Eine Dissertation dient der wissenschaftlichen Präsentation von Forschungsergebnissen und ist nicht zum Schmökern am Kamin verfasst. Allein für das Durchforsten der thematisch gegliederten, 126 Seiten langen Darstellung der empirischen Analyse und ihrer Ergebnisse braucht es mehr als eine Tasse Kaffee, um nicht die Konzentration zu verlieren, zumal jede Buchseite 39 Zeilen in kleiner Schrift umfasst. Da jedoch das zwölf Seiten kurze „Fazit“ diese Ergebnisse nur sehr abstrakt und knapp wiedergibt, kommt man um diesen zentralen Teil der Studie nicht herum, will man die ganze Fülle an erhellenden konkreten Antworten erfahren, die uns das Buch bietet.
Ich will jedoch nicht abschrecken, sondern ermutigen: Die vorgegebene Gliederung nutzen und sich den Text in kleinen Häppchen aneignen – dann eignen sich die Pausen umso besser zum Vergegenwärtigen des Gelesenen und zum Freuen über den Erkenntnisgewinn.
Quergelesen: Einige Antworten auf die Ausgangsfrage
Die Armen dieser Gesellschaft befinden sich „zugleich im Zentrum und am Rande des Geschehens“. „Als Betroffene … der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik sowie als Leidtragende stigmatisierender Diskurse stehen sie im Mittelpunkt.“ (S. 14) „Als Bürger des Gemeinwesens – zumal als politische – stehen sie jedoch abseits.“ (S. 15) An Versuchen, „Gegenmacht von unten zu entfalten“, beteiligen sich von ihnen „nur vergleichsweise wenige“ (ebd.). Die „sozialstaatliche Verwaltung der Fälle von Erwerbslosen“ wirkt „zuweilen wie eine übermächtige, hermetische Bürokratie, vor der Bürger sich in Untertanen verwandeln“ (S. 20). „Engagement ist abhängig von verfügbaren Ressourcen und vom Erwerbsstatus.“„Wer … benachteiligt ist, verzichtet umso häufiger darauf, Mitglied in einem Verein oder einer Initiative zu sein, und konzentriert seine Aktivitäten eher auf den familiären, privaten … Bereich, … um desintegrative Auswirkungen der Erwerbslosigkeit zu bewältigen.“ (S. 22 f.) „ ‚Unter den Arbeitslosen gibt es große Unterschiede: Wer Arbeitslosengeld I bezieht, ist mit 31 Prozent viel öfter engagiert als diejenigen, die Arbeitslosengeld II beziehen (22 Prozent)‹. (Gensicke/Geiss 2010: 102) Besonders niedrig ist die Engagementquote von ALG-II-Beziehenden mit geringem Bildungsstand – nur zwölf Prozent von ihnen engagieren sich ehrenamtlich.“ (S. 23) „Auch der Gebrauch der (politischen) Medien unterliegt einer sozialen Verzerrung.“ (S. 24) „Von der digitalen Spaltung, die in ungleicher Internetnutzung und ungleichem Zugang zu Bandbreiten der Datenübertragung besteht“, bis „im Rückgang der Wahlbeteiligung … drückt sich ein Rückzug sozial benachteiligter Schichten aus der Politik beziehungsweise deren Ausgrenzung aus.“ (S. 25) „Bürgerschaftliches Engagement ist mit Kosten … für Mitgliedschaften, Fahrten oder auch für die anschließende Geselligkeit … verbunden. …,Wenn das Geld knapp wird, werden solche Ausgaben zuerst zurückgefahren.‹“ (S. 39) „Tragfähige Beziehungen zu Kollegen, aber auch zu Verwandten, Freunden und Bekannten, stellen eine wichtige Voraussetzung dar, um sich engagiert in Gesellschaft und Öffentlichkeit zu begeben.“ „Brechen … diese Strukturen weg, dann … (werden) die Betroffenen … durch die Anforderungen … eines … Engagements unter Umständen überfordert.“ (S. 40 f.) „Der Verlust des Arbeitsplatzes führt typischerweise dazu, dass die Betroffenen ihr Netz privater Beziehungen verkleinern und vereinheitlichen …“ Indem sie „ihr soziales Netz tendenziell auf Beziehungen zu Menschen in gleicher und ähnlicher Lage beschränken, vermeiden sie, dass gegenseitige Erwartungen enttäuscht werden können …“ (S. 41) Es fehle ihnen oft der Glaube „an die Wirkmächtigkeit des eigenen und gemeinsamens Handelns“ (S. 43).
Aus der Praxis für die Praxis
„Eine übertrieben pessimistische Darstellung der Zustände kann entmächtigende Effekte haben, auch wenn sie in emanzipatorischer Absicht als Anklage im Namen der Betroffenen formuliert wird.“ (S. 271 f.) Voigtländer vermeidet dies. Sein Buchtitel „Armut und Engagement“ ist Programm. Er berichtet aus der Praxis für die Praxis, sowohl über die Einschränkungen der Handlungsmöglichkeiten durch den „Abbau sozialer Rechte“, der „Diffamierung als unwürdige Arme“ und die „individualisierende Zuschreibung der Verantwortung für die eigene Hilfebedürftigkeit“ unter dem „Aktivierungsparadigma“ im Rahmen der Agenda 2010 (vgl. S. 271 ff.); als auch über „Schutz vor Not und Ausgrenzung“, vor „Willkür und Bevormundung“ und über Widerstandsoptionen, die sich daraus ergeben (vgl. S. 256 ff.). Denn Voigtländer bietet nicht nur „Methode“ und ausgewertete „Empirie“. Er skizziert auch das gesellschaftliche Umfeld seines Studienobjektes: die „Verzerrung bürgerschaftlichen Engagements“ durch die Sozialkürzungen nach Einführung der getrennten Versicherungs- und Fürsorgeleistungen ALG I und II und die „Probleme der Selbstorganisation und Interessenartikulation Erwerbsloser und Armer“. Die Studie mündet in der Darstellung der Entwicklung der „Sozialen Bürgerrechte“ in der Bundesrepublik, nachdem „ein soziales Recht auf Fürsorge als einklagbarer Anspruch der Bürger gegen den Staat … 1954 gerichtlich anerkannt“ worden war (S. 244). Der Schluss gibt damit einen Ausblick auf den rechtlichen Rahmen der Handlungsmöglichkeiten.
Erwerbslose als Akteure
Voigtländer konstatiert: „Konflikte um Erwerbslosigkeit und Armut“ werden von den Betroffenen „nur ausnahmsweise auf der Straße oder in Parlament oder anderen öffentlichen Gremien“ geführt. „Leistungsberechtigte treten in diesem Konflikt (des gesellschaftlichen Verteilungskampfes, J. S.) selbst als Akteure auf, die den Gang der Dinge effektiv beeinflussen; nicht so sehr in Form von sozialem und sozialpolitischem Engagement … , sondern vor allem in privaten Aushandlungen und Verfahren in der alltäglichen Auseinandersetzung mit ihren Jobcentern.“„In diesem Konflikt definieren soziale Rechte, wie sie im Sozialgesetzbuch . konkretisiert sind, nicht nur die Ansprüche, die Leistungsberechtigte geltend machen können, sondern sie stellen zugleich grundlegende Regeln dar, nach denen dort überhaupt mit Aussicht auf Erfolg gerungen werden kann.“ (S. 275 f.) Selten las ich eine positivere Kommentierung der regelmäßigen Berichterstattung in der quer über aktuelle Gerichtsurteile. Hier, in der schwer erfassbaren, trockenen, lebensfernen Welt der Juristerei gingen Erwerbslose ganz lebendig und mutig gegen unrechtmäßige Zumutungen der Job center zur Sache1: „Im August 2013 waren knapp 400.000 Widersprüche und Klagen von ALG-II-Berechtigten abhängig, allein in diesem Monat wurde aus dieser Gruppe heraus in über 65.000 Fällen Widerspruch gegen Verwaltungsakte eingelegt und in über 13.000 Fällen vor Sozialgerichten geklagt. Rechnerisch führten seinerzeit bis zu 6 Prozent der ALG-II-Bedarfsgemeinschaften aktuell mindestens ein Widerspruchsverfahren, und wiederum bis zu 6 Prozent stritten vor Sozialgerichten (…). In den ersten acht Monaten seit November 2012, in denen die Bundesagentur die Daten zu Widersprüchen und Klagen im SGB-II-System monatlich aufbereitet, waren im Durchschnitt annähernd jeder dritte Widerspruch und jede zweite Klage aus Sicht der Betroffenen erfolgreich beschieden worden. Häufigster Streitgegenstand sind Bescheide der Jobcenter zu Leistungen für die Warmmiete.“ (S. 269 f.) Die steigenden Belastungen durch Mieterhöhungen und Energiewende sind die Konfliktfelder der nächsten Jahre. Weitere Studien von engagierten Doktoranden wie Voigtländer könnten da hilfreich sein.
Zuerst erschienen in der quer No 15, 03/2016
- Unter welch schwierigen Voraussetzungen, beschreibt Voigtländer auf Seite 270.↩
Ich persönlich bezweifle schon, das Dissertation zu diesem Themenkreis in irgend einer Weise dem Personenkreis helfen, der hier betroffen ist. Helfen kann letztendlich nur eine Änderung des SGB und insbesondere eine Änderung insofern, das sich Jobcenter/Sozialämter nicht so einfach aus der Verantwortung ziehen können, indem kurz und knapp in Bescheiden erklärt wird, das gegen den Bescheid binnen eines Monats ab Bekanntwerden eine Klage beim zuständigen Sozialgericht Klage eingereicht werden kann. Jeder, der schon einmal eine Klage beim Sozialgericht eingereicht hat – ob nun die Klage gegen das Jobcenter, das Sozialamt oder Rentenversicherungsträger gerichtet war – ist sich im Klaren darüber,… Read more »