
Faksimile Alhambra - Zeitung&Programm 01-02/2015
»Unwertes Leben«
»Es muss nach außen hin unter allen Umständen der Eindruck vermieden werden, daß der Staat trotz der heutigen Auffassungen seine Leistungen für das unwerte Leben erhöht.« 1 Mit diesem 1938 erteilten Geheimhaltungsbefehl erscheint der Leiter der oldenburgischen Fürsorgestelle, Oberregierungsrat Dr. jur. Carl Ballin, als Verteidiger der Behinderten und psychisch Kranken, die vom Staat zum »unwerten Leben« erklärt wurden. Der Satz lässt die Deutung zu, dass sich Ballin gegen die herrschende Staatsmeinung heimlich für eine bessere Versorgung dieser Menschen eingesetzt hat.
Um keine vorschnellen Urteile zu fällen, muss das Zitat – wie grundsätzlich jedes Zitat – in seinen historischen Zusammenhang gestellt werden. Erst der Hintergrund macht sichtbar, welche Haltung Carl Ballin den ihm anvertrauten Behinderten und psychisch kranken Menschen gegenüber einnahm. Wollte er äußerlich Anpassung vortäuschen, um in Wahrheit zu opponieren und Patient_innen vor dem rassenhygienischen Zugriff der Machthaber zu schützen? Kraft seiner Position im Innenministerium zählte er selbst zu den Machthabern und hinsichtlich der Gesundheitspolitik und Pflege bestimmte er über das Wohl und Wehe Hunderter von Patient_innen und Bewohnern_innen der staatlich-oldenburgischen Heime und Anstalten. Welche Einstellung zu diesen Menschen ihn kennzeichnete und wie er mit ihnen umging, soll in diesem kurzen Traktat, das auf einer demnächst erscheinenden Forschungsarbeit über die Rolle des Landesfürsorgeverbandes Oldenburg2 (LFV) im Nazi-Regime beruht, skizziert und in seinen Ergebnissen dargestellt werden.
»Frontkämpfer« und Sozialdarwinist
Der 1896 in Oldenburg geborene und evangelisch getaufte Carl Ballin entstammt der weitverzweigten jüdischen, in Oldenburg und Hamburg seit dem 19. Jahrhundert ansässigen, Dynastie der Ballins, aus der unter anderem eine bekannte Schiffsreederei hervorging. Carl Ballin besuchte das Gymnasium in Oldenburg und legte 1914 das Abitur ab, war bis 1918 „Frontkämpfer“ mit Auszeichnung (Eisernes Kreuz I. und II. Klasse, das Frontkämpferkreuz sowie Friedr.-Aug.-Kreuz I. und II. Klasse), studierte Jura in Marburg, Berlin und Göttingen und bestand 1921 das Referendar-Examen. In der Weimarer Republik wurde er Mitglied im „Frontkämpferbund Stahlhelm“, dem er bis zu seiner Auflösung 1934 treu blieb. Der „Stahlhelm“ vereinigte Weltkriegsteilnehmer, die die Niederlage von 1918 nicht ertrugen und die „Schmach von Versailles“ an den „Novemberverbrechern“ rächen wollten. Ohne ein abschließendes Urteil zu fällen, muss damit festgestellt werden, dass Ballin jener rechtsradikalen und antirepublikanischen Ideologie folgte, die für Juristen in der Weimarer Republik typisch war. Gerade Akademiker waren anfällig für die völkischen, antidemokratischen Parolen des rechtsradikalen Spektrums und füllten die Reihen der Freikorps und der konservativ-rechtsnationalen Parteien.
Angeblich wählte Carl Ballin bis 1932 die DVP, die natürlich keine rechtsradikale, sondern liberale Partei war. Aber im Gegensatz zum Spektrum des bundesdeutschen Liberalismus, der sich auf ein demokratisches Prinzip beruft, war die aus der Nationalliberalen Tradition des Kaiserreichs stammende DVP einem Liberalismus verhaftet, der mehr auf den Erfolg des Individuums als auf den demokratischen Gleichheitsanspruch einer Solidargemeinschaft abzielte, und trug insofern sozialdarwinistische Züge.
Der vulgäre Sozialdarwinismus beruft sich auf die Erkenntnisse der modernen Biologie im späten 19. Jahrhundert. Ihm diente das darwinsche Modell der evolutionären Konkurrenz, das romantisierend zum „Kampf ums Dasein“ verklärt wurde, als Gesellschaftsutopie. Seine Apologet_innen verweigerten sich in trivial-naiver Weise – oder aber zynischer Überzeugung – der erkenntnistheoretischen Einsicht, dass sich Darwins Modell jedem Übertragungsversuch auf die Gesellschaft entzieht.
Sozialdarwinismus und Krankenmord
Vor diesem Hintergrund entfalteten sich im Nazi-Regime die Überzeugungen Carl Ballins. In einer Leistungsgesellschaft, so das sozialdarwinistische Leitmotiv, begründet nur die Mitarbeit am gemeinsamen Wohlstand ein Existenzrecht. Dieses Weltbild hatte schon im Ersten Weltkrieg ein Massensterben unter den Psychiatriepatient_innen und Heimbewohner_innen begünstigt. Als Beweggrund für jene Hunger-„Euthanasie“, der mindestens 70 000 Patient_innen zum Opfer fielen, diente das Klischee, dass es den Anstaltspatient_innen gut gehe, während an der Front der Massentod und in der Heimat der Hunger herrschte. Da die Patient_innen eingeschlossen und fixiert waren, konnte ihre Zuteilung besonders scharf kontrolliert werden. Sie wurden einem Mangel ausgesetzt, der die Schwächsten vernichten sollte. Dieser sozialdarwinistische Idealzustand, angeblich ein Naturgesetz, war jedoch künstlich geschaffen – ein Widerspruch in sich. Es wäre ein Fehler, die Wirkung dieser Kollektiverfahrung historisch zu unterschätzen. Nur zwanzig Jahre später konnten Ärzt_innen, Pfleger_innen und Medizinalbeamte mit der Erkenntnis, dass klinische Morde an Behinderten und psychisch Kranken nicht nur ungesühnt, sondern auch niemals angeklagt, weil gesellschaftlich schlicht ignoriert wurden, in einem ideologisch aufgeladenen politischen Umfeld wie dem Nazi-Staat zu einer viel radikaleren Form des Krankenmords greifen. Dabei bedurften sie keiner Legitimation wie des allgemeinen Versorgungsmangels des Ersten Weltkriegs, ihnen wurden vom Staat keine Schranken gesetzt und sie wurden mit keinerlei Sanktionen bedroht.
Zu der Generation, die diese Erfahrungen verinnerlicht hatte, gehörte Carl Ballin. Als er im Jahr 1933 zum Leiter der Abteilung Soziale Fürsorge im Oldenburgischen Innenministerium ernannt wurde,3 geschah dies aufgrund seines Rufes als Beamter mit ökonomischem Spürsinn, der mit den Staatsfinanzen sparsam umzugehen wusste. Von der NS-Regierung in Oldenburg, der die Macht bereits im Juni 1932 zugefallen war, wurde im April 1933 eine grundlegende Verwaltungsreform mit dem Ziel einer radikalen Einsparung der Staatsausgaben erlassen. Dafür wurden Männer wie Carl Ballin gebraucht. Im Einsparen von Staatsausgaben lag das zweite große Motiv für den Krankenmord. Seit der moderne Staat Haushaltsstellen für Sozialkosten geschaffen hatte, mithin seit der Entdeckung der Sozialen Frage und den bürokratischen Versuchen zu ihrer Lösung im 18. und 19. Jahrhundert, tobte ein Kampf um die Beschränkung dieser Ausgaben. Da bildet die Gegenwart mit ihren täglichen Nachrichten über Missstände in der Pflege und dem ständigen Bemühen, Pflegekosten zu reduzieren, keine Ausnahme. Der Nazi-Staat, dem Skrupel fremd waren, beauftragte ökonomisch befähigte Ministerialbeamte, die Pflegekosten zu reduzieren, dabei jede Form einer radikalen Problemlösung gutheißend, auch wenn sie auf Beschneidung der Lebensgrundlagen abzielte. Zumindest den „unheilbar Kranken“, wie Hitler in seinem Euthanasie-Befehl vom 1. September 1939 formulierte, sollte „der Gnadentod gewährt“ werden. Die oldenburgische Landesregierung eilte dieser Entwicklung um Jahre voraus und erließ einen eigenen „Gnadentodbefehl“, mit dem der Landesfürsorgeverband den Staatshaushalt entlasten sollte.
Damit waren die Psychiatriepatient_innen und Heimbewohner_innen vom Weltbild Carl Ballins doppelt bedroht. Als „lebensunwertes Leben“ hatten sie in seinen Augen ein minderes Existenzrecht, und als „unnütze Esser“ waren sie Opfer seines Auftrags, die staatlichen Fürsorgekosten zu reduzieren. Ohne Umschweife machte er sich an die Arbeit, wobei ihm Umgebung und Struktur seines Arbeitplatzes entgegen kamen. Sein unmittelbarer Vorgesetzter, Ministerialrat Werner Ross, der die Kommunal- und Fürsorgeabteilung im Innenministerium leitete,4 war nicht nur ein alter Kamerad im „Frontkämpferbund Stahlhelm“, sondern berief ihn als Nummer Zwei in den Vorstand des Landesfürsorgeverbandes. Zur Erreichung ihrer Ziele strukturierten die beiden Beamten den Sozialverband wie ein Wirtschaftsunternehmen5 und emanzipierten ihn mehr und mehr von der Landespolitik. Mit ihrem System der radikalen Entlastung der Staatsausgaben machten sie sich bei der Landesegierung unentbehrlich, so dass der SS-Sicherheitsdienst 1938 über Werner Ross urteilte: „Ministerialrat Ross […] hat im Ministerium des Innern in Oldenburg eine ziemlich einflussreiche Stellung,“6 und Carl Ballin resümierte nach dem Krieg, „daß er [Ross] Einfluß auf seinen Vorgesetzten, den Ministerpräsidenten und stellvertretenden Gauleiter Joel, gewann, welcher eine weiche und für einen Nationalsozialisten verhältnismäßig tolerante Natur war.“7
Werner Ross war 1933 ins Innenministerium abberufen worden, um den 1924 gegründeten Landesfürsorgeverband zu reformieren. Zuvor hatte er als Landrat („Amtshauptmann“) des Kreises Jever gründlichen Einblick in die Verwaltung des Landefürsorgeverbandes nehmen können. Die Amtshauptmänner bildeten den Ausschuss, der die Abrechnung der von den Gemeinden gezahlten Fürsorgegelder beaufsichtigte. Mit dem Blick des erfahrenen Verwaltungsökonomen erkannte Werner Ross die Reformwürdigkeit des Landesfürsorgeverbandes und die Möglichkeiten, von den umfangreichen Finanzströmen einen Teil für staatliche Aufgaben jenseits der Fürsorge abzuzweigen. Am 15. Mai 1933 wurde das oldenburgische „Gesetz zur Vereinfachung und Verbilligung der öffentlichen Verwaltung“ in Kraft gesetzt,8 das deutlich seine Handschrift trug, doch in der Nachkriegszeit keinen guten Ruf hatte. Carl Ballin versicherte 1947, dass Werner Ross – und damit er selbst als Bestandteil des Systems Ross – für dieses „umwälzende“ Gesetz nicht verantwortlich sei.9 Tatsächlich stellte es einen Schritt in Richtung Marginalisierung und Niederführung der Fürsorgepatienten dar.
Ein weiterer Schritt war das am 30. Juli 1937 in Kraft getretene „Gesetz betreffend die Übertragung von Aufgaben auf den Landesfürsorgeverband Oldenburg.“10 Ross und Ballin erhielten beträchtlich erweiterte Kompetenzen zugewiesen, mit denen sie sich nicht mehr auf die Abrechnung der Pflegegelder beschränken mussten, sondern die Anstalten als ganzes einschließlich der Gebäude und Grundstücke, die ihnen überschrieben wurden, bewirtschaften konnten. Darüber hinaus sollten sie staatliche Aufgaben ganz anderer Art wie die Kulturförderung und Infrastrukturmaßnahmen finanzieren. Gleichzeitig sollten sie jedoch die Gemeindekassen entlasten, also trotz erweiterter Aufgaben weniger Geld zur Verfügung haben – anscheinend die Quadratur des Kreises. Zunächst senkten sie die Pflegesätze der 3. Klasse11 von 3,25 RM auf 1,85 RM für Psychiatriepatient_innen und 1,40 RM für Heimbewohner_innen12. Damit lagen „die hiesigen Anstalten mit ihren Pflegesätzen weit unter dem Reichsdurchschnitt,“13 wie sich der Vorstand 1942 selber lobte. Aus diesen geringen Pflegesätzen eine angemessene Versorgung zu gewährleisten, war nicht das Problem von Ross und Ballin, sondern aus ihnen Überschüsse zu erwirtschaften. Am Beispiel des Gertrudenheims zeigte Ballin, wie das ging. Von einem Tagessatz von 1,40 RM sparte er 60 Pfennig ein.14 Damit hatte sich die Versorgung der Patienten_innen derart verringert, dass ein Hungersterben um sich griff, von dem Hunderte betroffen waren. Die Sterblichkeit in den oldenburgischen Heimen und Anstalten wuchs rapide an, nachdem im Jahr 1936 das Ernährungsminimum unterschritten worden war.15
Fünf Jahre später bilanzierte Ballin: „Durch die Senkung der Pflegesätze sind der öffentlichen Fürsorge im Lande Oldenburg bisher schon fast zwei Millionen Reichsmark gespart worden; diese Ersparnisse verteilen sich je zur Hälfte auf die oldenburgischen Bezirksfürsorgeverbände und auf den Landesfürsorgeverband Oldenburg. Dadurch wurde nachhaltig der Erkenntnis Rechnung getragen, daß die Ausgaben für das erbbiologisch unwerte Leben im Rahmen einer ordnungsgemäßen Behandlung möglichst niedrig zu halten ist.“16
Außer den Finanzen wusste Ballin auch das Anlagevermögen zu vermehren. Wehnen, Kloster Blankenburg, das Waisenhaus Varel und andere staatliche Einrichtungen wurden dem Landesfürsorgeverband übereignet. Die privat betriebene Arbeiterkolonie Dauelsberg, die er nicht freiwillig bekam, ließ er kurzerhand enteignen. Das aus einem Ödlandgebiet in fünfzigjähriger Arbeit in fruchtbares Ackerland verwandelte Gelände verkaufte Ballin sodann für 300 000 RM, um anschließend den landwirtschaftlichen Betrieb auf eine für 90 000 RM erworbene Brache in der gleichen Größe zu verlegen. Neben dem dabei erzielten Gewinn von 210 000 RM konnte er die Arbeitskraft der Heimbewohner_innen nutzen, um mit den landwirtschaftlichen Produkten die Versorgung der Anstalt zu verbilligen. Die Überschüsse verkaufte er am Markt.17
Auch in der Unterrichts- und Pflegeanstalt Gertrudenheim mussten die Patienten_innen arbeiten, allerdings beschränkte sich der Arbeitseinsatz traditionell auf „eine Reihe von Pfleglingen“, die bei der Haushalts- und Küchenarbeit halfen, um damit „mehrere Hausmädchen und dergleichen entbehrlich“ zu machen, wie Ballin schrieb.18 Als das Heim jedoch im März 1937 nach Kloster Blankenburg verlegt wurde, standen die Patienten_innen vor der Aufgabe, einen landwirtschaftlichen Betrieb von gut 90 ha zu bewirtschaften,19 auf der sie Schwerarbeit leisten mussten. In der Heil- und Pflegeanstalt Wehnen war eine Landwirtschaft in ähnlicher Größe zu versorgen. Hier konnten die Interessen der Staatsökonomie mit der Arbeitstherapie verbunden werden, wie Ballin bemerkte: „Durch die Beschäftigung von Kranken in der Landwirtschaft konnte neben Besserungs- und Heilerfolgen bei den arbeitenden Kranken eine gewaltige Ertragssteigerung erzielt werden, wodurch wiederum die Möglichkeit geschaffen wurde, die Verpflegungssätze ganz erheblich zu senken, was nicht zuletzt im Interesse der Steuerzahler liegen dürfte.“20 Mit der Arbeitsfähigkeit erwarben sich die Patienten_innen das Recht auf ein Minimum an Versorgung – auch dies entsprach sozialdarwinistischen Vorstellungen. Es ist statistisch erwiesen, dass hauptsächlich die weniger leistungsfähigen und die gänzlich behinderten Patienten_innen zur Opfergruppe gehörten. Ihre Ausbeutung hatte für den Landesfürsorgeverband und seine Vermögensbildung Bedeutung bis weit in die Nachkriegszeit.
Ein weiteres Engagement von Ballin galt der Erbgesundheitspolitik, mit der die NS-Staatsführung sämtliche sogenannten Erbkrankheiten per Unfruchtbarmachung aus der „Volksgemeinschaft“ verbannen wollte. „Die Heil- und Pflegeanstalten bieten schlechthin den großen Ansatzpunkt für eine erbbiologische Bestandsaufnahme des deutschen Volkes. Diese Aufgabe würde im Lande Oldenburg völlig daniederliegen [!], wenn es über keine eigene HPA verfügte [um] die hiesigen Sippen zu untersuchen […],“ schreibt Ballin 1941,21 und sorgte dafür, dass der LFV die Verwaltung der Erbbiologischen Bestandsaufnahme an sich zog. Er ließ eine „Sippenstelle“ einrichten, um jede Familie in ihrer Erbfolge mit Krankheitsangaben bis zu den Urgroßeltern zu erfassen. Bevorzugte Opfer waren die Psychiatriepatient_innen und ihre Angehörigen. Es wurde eine „erbbiologische Kartei“ mit „Sippenbogen“ über jede Familie angelegt. Von der im Staatsarchiv eingerichteten und vom LFV finanzierten Datei sind heute keine Spuren mehr zu finden.
Ballins Entscheidungen hatten den Tod Hunderter von Patienten_innen in Wehnen und Kloster Blankenburg zur Folge. Seine Jahresberichte geben Einblick in ein Hungerdrama, wenn es heißt, „daß der Durchschnittsverpflegungssatz für Kranke im Rechnungsjahr 1939 = 0,43 RM und im Rechnungsjahr 1940 = 0,37 RM betrug“ und dass auf diese Weise „im vorangegangenen Geschäftsjahr wiederum ein erheblicher Überschuß erwirtschaftet“ worden sei.22 Mit 40 Pfennig am Tag war ein_e Patient_in nicht zu ernähren, und da die Produkte aus dem landwirtschaftlichen Betrieb der Anstalt in vollem Umfang auf die Pflegekosten angerechnet wurden, hatte die Anstalt für den Ankauf von Lebensmitteln tatsächlich nur die genannten Beträge zur Verfügung. Solange die Patient_innen den Mangel ertrugen, kassierte der LFV die Tagessätze – ein System, das offenbar von Ballin zur Perfektion ausgestaltet wurde. Es ist zu untersuchen, ob er auch Vordatierungen vornahm, d.h. ob er das Sterbedatum in die Zukunft verlegte, um die Pflegekosten auch nach dem Tod der Patient_innen zu kassieren. Diese Methode gehörte zum Abrechnungsweise der Euthanasie-Zentraldienststelle „Aktion T4“ in Berlin.
Ideologie
Carl Ballin handelte offenbar aus der Überzeugung heraus, dass den Menschen unterschiedliche Lebensrechte zuständen. Damit vertrat er die weit verbreiteten sozialdarwinistischen Ansichten seiner Epoche und machte einen großen Kreis von Menschen, die seiner Fürsorge anvertraut waren, zu Opfern. Da er ein alter Kamerad im „Frontkämpferbund Stahlhelm“ war, folgte sein Denken auch einem antidemokratischen, völkisch-rechtsradikalen Weltbild. Dass er dennoch um eine Mitgliedschaft in der NSDAP herumkam, ist bemerkenswert, umso mehr, da er, wie sein Vorgesetzter Ministerpräsident Georg Joel schrieb, „von väterlicherseits [!] einen jüdischen Großelternanteil“ hatte, weshalb er „aus dem Verkehr mit dem Publikum herausgezogen“ worden sei.23 Hier wird ein von antisemitischer Verfolgung bedrohter Beamter von einem überzeugten Parteigenossen geschützt, damit er den systematischen Krankenmord planen und durchführen kann. Dies zeigt einmal mehr, dass die Vernichtungsidee gegen psychisch Kranke und Behinderte nicht auf den deutschen Faschismus zurückging, ja ihn nicht einmal brauchte, sieht man auf die Hungertoten in der deutschen Psychiatrie der Jahre 1914–1919, sondern einer viel älteren Ideologie folgte. Auch von einem Druck zum Eintritt in die Partei, den seine Kollegen nach dem Krieg vor den Entnazifizierungsausschüssen als Grund für ihre Mitgliedschaft angaben, war bei Ballin keine Rede.
Carl Ballin wurde niemals für seine Taten belangt, vielmehr bekam er von der Britischen Militärbehörde sofort einen Sonderbonus und wurde zum Oberkreisdirektor ernannt. Dieses Amt hatte er bis zu seiner Pensionierung 1961 inne. Der Landesfürsorgeverband verdankte ihm ein Vermögen, und viele Einrichtungen profitierten davon, darunter die Nazi-Thingstätte „Stedingsehre“ in Bookholzberg, die NSDAP, die Gau-Forschungsstelle Weser-Ems und die Sippenstelle am Staatsarchiv. Über das Nazi-Regime hinaus waren es in erster Linie das Museumsdorf Cloppenburg, die Energieversorgung Weser-Ems und die Tierkörperbeseitigungsanstalten. Grundlage dieser Vermögensbildung war eine systematische Zweckentfremdung der Pflegegelder in großem Stil, an der mindestens 1500 Patienten_innen der oldenburgischen Heime und Anstalten zugrunde gingen.
Zuerst erschienen in Alhambra – Zeitung & Programm, 01–02/2015
- Ballin am 8.2.1938 an das Oldenbg. Innenministerium (OMdI), Archiv der Karl-Jaspers-Klinik, 20–01-01 Bl. 372/18.↩
- Der Landesfürsorgeverband benannte sich später in Bezirksverband Oldenburg um.↩
- Entnazifizierungsakte Carl Ballin, Staatsarchiv Oldenburg (StAO) Best 351 Nr. 1965.↩
- Entnazifizierungsakte a.a.O.↩
- Die Geschäftsführung (Vorstand) bestand aus zwei Beamten (Ross und Ballin), der Kontroll-ausschuss aus den Landräten („Amtshauptmänner“) sowie den Bürgermeistern von Oldenburg, Delmenhorst und Rüstringen/Wilhelmshaven.↩
- Bericht Sicherheitsdienst Reichsführer SS, Unterabschnitt Weser-Ems, Vechta, vom 27.8.1938, StAO Best. 320–2 Nr. 1 Bl. 4.↩
- Entnazifizierungsakte a.a.O.↩
- Entnazifizierungsakte a.a.O..↩
- Entnazifizierungsakte a.a.O.↩
- Veröffentlicht im Oldenburgischen Gesetzblatt Band 50 S. 181, KJKA 20–01-01, Bl. 372/13.↩
- Die auf Kosten der öffentlichen Fürsorge Untergebrachten stellten durchschnittlich 95 % der Patienten dar.↩
- Ballin am 6.2.1941 an OMdI, KJKA Nr. 20–01-08 Bl. 1/3 S. 1 f.↩
- Vorstand des LFV am 17.8.1942 an Organisation Todt, Bezirksverbandsarchiv (BVA) F‑5XI, Bl. 2/65.↩
- Ballin am 7.8.1936, BVA HH 1 A, Bl. 4, S.5.↩
- Vgl. Ingo Harms: „Wat mööt wi hier smachten…“ Hungertod und „Euthanasie“ in der Heil- und Pflegeanstalt Wehnen 1936–1945, Oldenburg 1996/2008.↩
- Ballin am 6.2.1941 a.a.O., S. 2.↩
- Vgl. Protokoll der LFV-Vorstandssitzung vom 31.8.1937, TOP 6 S. 3, KJKA 20–01-01 Bl. 372/16.↩
- Ballin am 7.8.1936, BVA HH 1 A Bl. 4 S. 2.↩
- „Für das Gertrudenheim wird es von Nutzen sein, wenn etwas mehr Landwirtschaft betrie-ben werden kann, als es auf dem jetzigen, nur 5,25 ha großen Grundstück möglich ist,“ Ballin am 28.11.1936 an OMdI, BVA HH-1Q‑3.↩
- OMdI, Aktennotiz vom 9.9.1936, KJKA 20–05-04 Bl. 184.↩
- LFV, Aktennotiz vom 6.2.1941, StAO Akz. 162 Nr. 561.↩
- Abrechnungen Kloster Blankenburg 1.11.41–28.2.42, vorgelegt am 7.4.1942, Bezirksverbandsarchiv F‑5XI, Bl. 2/65.↩
- Ministerpräsident Joel, Dienstbeurteilung Carl Ballins, 5.7.1937, Bundesarchiv Berlin D/PA 4669.↩